Hohes Interesse am Jugendvollzug
MdB Cem Özdemir erneut zu Besuch in der JVA Adelsheim - BSBD mit am Tisch
- Foto: JVA Adelsheim MdB Cem Özdemir in großer Begleitrunde
Bereits Ende des letzten Jahrtausends hatte Cem Özdemir, damaliger innenpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion, die baden-württembergisch Jugendvollzugsanstalt erstmals besucht, 2010 hatte der ausgebildete Erzieher und studierte Sozialpädagoge die JVA mit einer Lesung und zwei Klassensätzen seines kritischen Sachbuchs „die Türkei“ unterstützt, nun kam der baden-württembergische Spitzenkandidat wieder zu einem dreistündigen Informationsbesuch in die Justizvollzugsanstalt Adelsheim.
Regierungsrätin Stefanie Wagner, Verwaltungsleiter Klaus Brauch-Dylla, Vollzugsdienstleiter Marc Unangst und Cem Eligül, der Geschäftsführer der Ausbildungs- und Arbeitsbetriebe der JVA, hießen ihn sowie die Anstaltsbeiräte Ralph Gaukel und Wolfram Bernhardt willkommen und schilderten die Entwicklungen und Veränderungen des Jugendstrafvollzuges im vergangenen Jahrzehnt. Die Statistischen Übersichten des Kriminologischen Dienstes zeigten eine deutlich rückläufige Zahl an Inhaftierungen und eine erheblich heterogenere, multiethnische Belegung sowie eine größere Anzahl von Verurteilungen aufgrund von Gewaltanwendung oder -Androhung. Schwierige biographische Hintergründe, Gewalterfahrungen, geringe beruflich-schulische Erfolge vor der Inhaftierung und vielfache Suchtproblematiken betreffen die Jugendlichen wie bereits in der Vergangenheit. Auch die Auswirkungen der Hofgangsschlägerei von 2014, die in Folge getroffenen organisatorischen Veränderungen und die langwierigen Auswirkungen auf die Anstaltskultur waren Thema, zuletzt veränderten die Einschränkungen durch die Pandemie den Vollzugsalltag in den vergangene 15 Monaten gravierend.
Während in der vergangenen Legislaturperiode signifikante Verbesserungen in der Personalausstattung und den Beförderungsmöglichkeiten im Justizvollzugsdienst erzielt wurden besorgt der bauliche Zustand der Anstalt seit langem die Verantwortlichen. Den dringenden Renovierungsbedarf benannte auch Özdemir deutlich als unübersehbar. „Anfang der Siebziger hat das Land dem damaligen Baustil entsprechend gebaut, da muss dringend was passieren“ bestätigte er die Sicht der Anstaltsleitung. Dass es gelungen sei die Umsetzung des Masterplans expressis verbis im Baden-Württembergischen Koalitionsvertrag festzuschreiben sei eine sehr deutliche Anerkenntnis des Sanierungsbedarfs, auch die Mitarbeit von Anstaltsleiterin Katja Fritsche in der AG „Moderner Strafvollzug“ habe Spuren im Koalitionsvertrag hinterlassen.
In einer Diskussionsrunde mit den Vertreter*innen aller Fachdienste, des Personalrats und des Bundes der Strafvollzugsbediensteten(BSBD) traf Özdemir dann mit dem versammelten Sachverstand der JVA im Gottesdienstraum der Anstalt zusammen.
Von einem Vertreter des Kriminologischen Dienstes wurde grundlegend angemerkt, dass in Öffentlichkeit und Politik häufig der Eindruck erweckt werde, dass der Jugendstrafvollzug vor allem aus Sexualstraftätern und Mördern bestehe, während wegen solcher Kapitaldelikte im Jahr 2020 gerade 11 Verurteilte (4,5 %) aufgenommen worden seien. Die durchschnittliche Haftdauer von 1 Jahr und die überwiegende Verurteilung wegen schädlicher Neigungen und nicht aufgrund der Schwere der Delikte spräche gegen die These der zunehmenden Verrohung und die populistische Dramatisierung. Es sei deutlich, dass die meisten Jugendstrafgefangenen einer stark benachteiligten Gesellschaftsschicht entstammten und die Ressourcen in Form von Bildung, materieller Ausstattung, aber auch emotionaler Anbindung deutlich reduziert seien im Vergleich zu Gleichaltrigen aus anderen Gesellschaftsschichten. Diese Defizite, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kriminalität der Jugendlichen stünden, zu mildern, sei der Auftrag des Jugendstrafvollzugs. Dies könne nur gelingen, wenn ein realistisches Bild des Jugendstrafvollzugs gezeichnet werde, das eben nicht durch das Bild des gefährlichen Verbrechers geprägt werden dürfe.
Genau dazu diene auch sein Besuch erläuterte Özdemir. Obwohl er inzwischen fachpolitisch in anderen Bereichen verantwortlich sei, habe er aufgrund seiner beruflichen Wurzeln ein tiefes Interesse am Erziehungsvollzug und mache sich ein unmittelbares Bild. „Ich will zu guten Haftbedingungen für die Jugendlichen und gleichermaßen guten Arbeitsbedingungen für Sie als Bedienstete in Ihrer herausfordernden Aufgabe beitragen!“. Er bot seine größtmögliche Unterstützung an um die Realisierung des Masterplans und den Neubau von Wohngruppen, wie er gesetzlich geboten sei, voran zu bringen.
Dass Wohngruppenvollzug, der in der JVA Adelsheim seit fünf Jahren in einem zweigruppigen Hafthaus mit finanzieller Unterstützung der Landesstiftung durchgeführt wird, eine deutliche Reduktion der sozialen Auffälligkeiten und insbesondere Gewaltvorfälle erreicht, belegte wiederum die kriminologische Forschung. So konnten Vorfälle mit erheblichen verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen um 90 % gegenüber der Situation vor Projektbeginn reduziert werden. Diese Erfolge des Wohngruppenvollzugs erforderten jedoch mehr Fachpersonal und entsprechende räumliche Gegebenheiten. Bei beiden Punkten habe der Jugendstrafvollzug im Land im Vergleich z.B. mit Hessen deutlichen Nachholbedarf.
Auf problematische Wertehaltungen wie signifikant höhere Homophobie und Antisemitismus und einem ausgeprägten Desinteresse an politischem Engagement bei den Gefangenen reagiert die Anstalt nun mit einer politischen Bildungswoche im August, die sich der Abgeordnete von Freizeitpädagogin Tamara Burger skizzieren lies, bevor Özdemir sich mit den beiden gewählten Insassensprechern zusammensetzte. Dabei war Corona Thema und die Sehnsucht nach Normalisierung von Besuchsmöglichkeiten, teilweise aber auch verbreitete Impfskepsis unter den Gefangenen, für die die JVA momentan ein Impfangebot organisiert.
„Politische Bildung und -Beteiligung, die Vertretung der eigenen Interessen, ist ganz wichtig. Gut, dass die Insassenvertretung funktioniert und von der Anstalt unterstützt wird. Die politische Projektwoche finde ich eine super Sache. Bei sowas dürfen Sie mich ich in Zukunft gerne mal ansprechen.“ wünschte er gutes Gelingen.
Wie Özdemir, der resümierte „Ein absolut informativer Besuch. Auch das Engagement Ihrer Mitarbeitenden hat mich wirklich beeindruckt“ waren auch die Gastgeber zufrieden. Kai Kretschmer, Ortsvorsitzender der Vollzugsgewerkschaft BSBD: „Dass Herr Özdemir zum wiederholten Male in der JVA Adelsheim zu Gast war zeigt, welchen Stellenwert der Justizvollzug mittlerweile einnimmt. Er hat sich den Sorgen und Nöten der Kolleg*innen mit großem Interesse gestellt und versucht Antworten hierzu zu finden. Das macht Mut für die Zukunft“.
Bericht: Klaus Brauch-Dylla